Die Schaffhauser Staatsanwaltschaft untersucht den ersten Todesfall in der Sterbekapsel. Recherchen zeigen, dass sie ungewöhnlich hart vorgeht – und an einer zweifelhaften Theorie festhält.
In Kürze:
- Am 23. September 2024 starb erstmals eine Person in der Suizidkapsel Sarco.
- Noch am selben Tag verhaftete die Schaffhauser Polizei vier Personen.
- Florian Willet, der Direktor der hinter Sarco stehenden Sterbehilfeorganisation The Last Resort, wurde zehn Wochen in Untersuchungshaft festgehalten.
Die Geschichte der Suizidkapsel Sarco nimmt erneut eine unerwartete Wendung. Zu Beginn dieser Woche klingelt das Telefon einer Journalistin dieser Redaktion, es meldet sich Florian Willet, der Direktor von The Last Resort. Jener neuen Sterbehilfeorganisation in der Schweiz, die hinter Sarco steht. Willet liegt in einem Spital und bittet um ein persönliches Gespräch.
Zurzeit möchte er sich zwar nicht öffentlich zu Sarco oder seinem gesundheitlichen Zustand äussern. Doch was die letzten Monate über geschah, scheint dem 47-Jährigen gesundheitlich zugesetzt zu haben. Aus Rücksicht auf seine Privatsphäre geht diese Redaktion nicht weiter auf den Spitalbesuch ein.
Willet war als einzige Person dabei, als im September in Schaffhausen erstmals eine Person in der Kapsel begleiteten Suizid beging. Zehn Wochen sass er danach in Untersuchungshaft, ehe er am 2. Dezember entlassen wurde. Die Ermittlungen gegen ihn laufen weiter.
Doch was ist in den letzten Monaten passiert? Warum sass Willet so lange in Untersuchungshaft?
Diese Redaktion sprach mit Involvierten und unabhängigen Experten aus Justiz und Rechtsmedizin und konnte wichtige Dokumente einsehen. Es ergibt sich das Bild einer Staatsanwaltschaft, die mit harter Hand vorgeht – und an einer Würgetheorie festhält, an der erhebliche Zweifel bestehen.
Ein iPad wird zum Beweisstück
Montagnachmittag, der 23. September 2024. Es ist kurz vor 16 Uhr, Florian Willet steht ruhig da und schaut auf das iPad in seiner Hand. Er tippt auf den Bildschirm, öffnet eine App und verfolgt mit dem Zeigefinger eine Grafik, die aufblinkt. Er kramt sein Handy hervor und filmt den Bildschirm ab. Dann schaut er vom iPad auf, auf das, worauf er lange hingearbeitet hat: den Sarco.
Vor wenigen Minuten ist eine schwer kranke Amerikanerin in die dunkelblaue Suizidkapsel gestiegen. Diese steht in einem Stück Wald in Merishausen im Kanton Schaffhausen. Die Kapsel ist luftdicht verschlossen, es strömt Stickstoff in den Sarco. Die Frau wird jeden Moment tot sein.
Willet ist der Einzige, der beim ersten begleiteten Suizid mittels Sterbekapsel vor Ort ist. Das belegen Videoaufnahmen, die diese Redaktion sichten konnte. Sie zeigen, wie er während gut 20 Minuten mit dem iPad um die Kapsel läuft. Zwischendurch ruft er Sarco-Erfinder und Sterbehilfeaktivist Philip Nitschke an und berichtet. Ihm schickt er auch die Handyvideos. Diese dienen nicht nur der Dokumentation – sie werden zum wesentlichen Beweisstück.
Um 16.01 Uhr ist die Frau tot.
Willet war zehn Wochen in Untersuchungshaft
Die Bilder aus dem Schaffhauser Waldstück gehen nur Stunden später um die Welt. Eine Mischung aus Verwunderung und Ungläubigkeit erfasst die Schweiz. Denn die Sarco-Verantwortlichen setzen sich an jenem Montagnachmittag über alle Mahnungen von Behörden hinweg. Verschiedene Staatsanwaltschaften drohten zuvor, sie würden bei einem Sarco-Einsatz in ihrem Kanton ein Strafverfahren eröffnen. Auch die Schaffhauser Strafverfolger.
Noch vor Ort verhaften sie vier Personen: Neben Willet sind das zwei von The Last Resort mandatierte Anwälte sowie eine niederländische Fotografin. Letztere waren während des Suizids nicht präsent, befanden sich aber in der Nähe.
Willet, ein Deutscher mit Wohnsitz in der Schweiz, muss danach ganze zehn Wochen in Untersuchungshaft verbringen, ehe er am 2. Dezember entlassen wird. Der Grund: Die Staatsanwaltschaft verdächtigt ihn der vorsätzlichen Tötung. Dieser Vorwurf wiegt deutlich schwerer als der Verdacht auf Verleitung und Beihilfe zum Suizid, den die Schaffhauser Behörden zuerst kommuniziert haben.
Wie die Zeitung «de Volkskrant» enthüllte, prüfen die Ermittler, ob Willet die Verstorbene erwürgt hat. Das niederländische Medium hat die Sarco-Premiere begleitet, unter anderem durch eine Fotografin. Weil der Tötungsverdacht laut Staatsanwaltschaft «dringlich» war, behielten die Ermittler Willet in Untersuchungshaft. Nun ist der Verdacht zwar nicht mehr «dringlich», aber immer noch da, wie der Erste Staatsanwalt Peter Sticher auf Anfrage bestätigt.
Woher kommt diese Theorie? Und ist das Vorgehen der Staatsanwaltschaft gerechtfertigt?
«Kein Interesse», Staatsanwaltschaft verzichtet auf Krankenakte
So überraschend die Schaffhauser Sarco-Premiere für die Öffentlichkeit war, die lokalen Behörden wussten vom Vorhaben längst Bescheid. Das zeigt ein schriftlicher Austausch, den diese Redaktion einsehen konnte. Er beginnt bereits Ende Mai durch Exit International, einer Sterbehilfeorganisation, hinter der der australische Aktivist Philip Nitschke steht. Sie hat nichts mit der in der Schweiz etablierten gleichnamigen Sterbehilfeorganisation zu tun. Exit International zieht im Hintergrund die Fäden, während The Last Resort danach an die Öffentlichkeit tritt.
Die Sarco-Verantwortlichen kündigen der Schaffhauser Staatsanwaltschaft sowie dem Kantonsarzt an, dass man die erste Freitodbegleitung in der Kapsel in ihrem Kanton durchführen wolle. Daraufhin meldet sich der Erste Staatsanwalt Sticher schriftlich zurück. Er kündigt eine «kritische Untersuchung» an und droht mit einem Strafverfahren.
Die Pläne sickern durch. Am 3. Juli berichtet die NZZ, dass Sarco noch im selben Monat zum Einsatz kommen dürfte.
Am 8. Juli telefoniert Stichers Untergebener und leitende Staatsanwalt (Name der Redaktion bekannt) mit einem Anwalt von Exit International. Dieser bietet an, der Staatsanwaltschaft ein umfangreiches Dossier zuzustellen. Darin befindet sich die Krankenakte der sterbewilligen Amerikanerin, ein Nachweis ihrer Urteilsfähigkeit sowie ein Schreiben ihrer beiden Söhne, die den Suizidwunsch akzeptieren.
Der leitende Staatsanwalt stellt gemäss einer Aktennotiz klar, dass er Sarco gegenüber sehr kritisch sei. Er wolle die Dokumentation nicht vorab einsehen. Sowieso: Der Kanton Schaffhausen habe «keinerlei Interesse daran, dass Exit International im Kanton Schaffhausen eine Sterbebegleitung durchführe, geschweige denn ein Sterbehaus in Betrieb nehme». Ein Sterbehaus war indes nie ein Thema.
Weshalb sie das Dossier ausgeschlagen hat, will die Staatsanwaltschaft dieser Redaktion nicht sagen.
iPad dokumentiert Sauerstoffgehalt in der Kapsel
Am 23. September um 16.01 Uhr ist es also so weit. Die 64-jährige Amerikanerin, die an einer schwerwiegenden Immunschwäche leidet, stirbt als erster Mensch im Sarco. Nitschke verfolgt gemäss eigenen Angaben den begleiteten Suizid via Kamera in der Kapsel. «Es sah genau so aus, wie wir es erwartet haben», sagt Nitschke danach zu Medien. Er habe den Sauerstoffgehalt in der Kapsel nachverfolgen können.
Und zwar über die erwähnte App auf Florian Willets iPad. Die Grafik nämlich zeigt den Verlauf des Sauerstoffgehalts in der Kapsel. Das zeigen Videoaufnahmen, die diese Redaktion einsehen konnte. Insbesondere die Zeitangabe ist entscheidend. Sie weist nach, dass der Sauerstoffgehalt in der Kapsel während mindestens 26 Minuten unter 10 Prozent lag. Bis weit nach 16 Uhr. Ist der Sauerstoffgehalt so tief, stirbt eine Person nach nur wenigen Minuten.
Das bedeutet: Die Kapsel konnte während dieser Zeit nicht geöffnet worden sein. Sonst wäre der Sauerstoffgehalt durch die einströmende Aussenluft nach oben geschnellt.
Willet bleibt an Ort und Stelle. Die beiden Anwälte und die holländische Fotografin sind in der Nähe, als einer der Anwälte um circa 16.40 Uhr die Staatsanwaltschaft anruft. Er informiert über den Suizid. Doch es erscheint niemand. Also ruft der Anwalt kurz vor 18 Uhr ein zweites Mal an. Dann taucht die Polizei mit einem Grossaufgebot auf, verhaftet alle vier und beschlagnahmt die Suizidkapsel. Die Verstorbene wird ins Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich gebracht.
Die Würgetheorie
Obwohl sich Willet der Polizei «gestellt» hat, hält die Staatsanwaltschaft bis heute am Verdacht fest, Willet könnte die Frau vorsätzlich getötet haben. Das wirft auch deshalb Fragen auf, weil die Strafverfolger im Besitz der Videoaufnahmen und von Willets iPad und Handy sein müssen. Die «Volkskrant» thematisierte zwar, dass es bei den Videoaufnahmen Unterbrechungen gab – weil diese nur bei Bewegungen filmte. Doch die Aufzeichnungen der Aussenkamera stocken erst nach 16.30 Uhr, als die Frau bereits tot war.
Der Verdacht der vorsätzlichen Tötung basiert auf einem Telefonat mit einer Person des Instituts für Rechtsmedizin. Wie aus einer Telefonnotiz hervorgeht, informiert sie die Staatsanwaltschaft einige Stunden später über die Befunde.
Unter anderem habe man bei der Frau Verletzungen am Hals gefunden. Zwar könnten diese durch einen Krampf verursacht worden sein. Eher sprächen die Befunde aber «für stumpfe Gewalt gegen den Hals». Bis heute liegt der Staatsanwaltschaft kein Obduktionsbericht vor, der den Verdacht genauer erörtern würde.
Gegen ein gewaltsames Vorgehen Willets sprechen die Videoaufnahmen und die Sauerstoffmessung. Auch wurden am Körper der Verstorbenen keine DNA-Spuren von Willet gefunden. Ohnehin hat sich Willet der Polizei gestellt, was es auch gemäss Rechtsexperten höchst unwahrscheinlich macht, dass er die Frau erwürgt haben könnte.
Ulrich Zollinger ist emeritierter Professor für Rechtsmedizin. Er hat zahlreiche aussergewöhnliche Todesfälle untersucht, auch Verstorbene, die mit der etablierten Schweizer Exit-Organisation aus dem Leben gingen. «In meinen 30 Jahren habe ich nie etwas Ungewöhnliches dabei entdeckt, was eine Obduktion nötig gemacht hätte.» Dass man bei Sarco genauer hinschaue, könne er «wegen der Aktualität und Brisanz der ersten Anwendung» hingegen nachvollziehen. Doch genau weil der Fall so interessiere und eine längere Untersuchungshaft nach sich gezogen habe, könne er nicht nachvollziehen, weshalb so lange kein Obduktionsbericht vorgelegt worden sei.
Was den Würgeverdacht angeht, ist Zollinger skeptisch. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Sterbehelfer auf diese Weise den Tod herbeiführen will und kann.» Zudem würden ja Videoaufnahmen des Sterbeorts bestehen, nachdem die Frau in den Sarco gestiegen sei. «Wenn jemand nachgeholfen hätte, wäre dies aufgezeichnet worden.»
«Schwer nachvollziehbar», findet Bernhard Rütsche den Verdacht, er ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Luzern. Er hat schon mehrfach zu Sterbehilfe publiziert und sagt: «Der Verdacht, der ja offenbar auf einem Telefonat beruht, wirkt vorgeschoben.» Um eine zehnwöchige Untersuchungshaft zu rechtfertigen, müsste immerhin ein Teilbericht der Rechtsmedizin vorliegen oder anderweitige stichfeste Beweise.
Auch lehnte es die Staatsanwaltschaft ab, Philip Nitschke einzuvernehmen. Obwohl er gemäss The Last Resort während des ersten Sarco-Einsatzes als Einziger im direkten Austausch mit Willet stand – und damit potenziell ermittlungsrelevante Informationen einbringen könnte.
Ungewöhnliche Methoden
Welche Beweisstücke die Staatsanwaltschaft besitzt, wissen nicht mal die Anwälte der Beschuldigten. Sie haben bis heute keine Akteneinsicht erhalten, obwohl sie mehrfach darum ersucht haben. Es ist zwar gang und gäbe, dass Beweismittel der Verteidigung zunächst vorenthalten werden, bis der Beschuldigte dazu befragt wurde. Doch dass die Anwälte bis heute keine Einsicht haben, nennt Rütsche «höchst ungewöhnlich».
Er vermutet, die Staatsanwaltschaft wolle ein Exempel statuieren. «Sie steht möglicherweise unter Druck, gegen diese Form der Suizidhilfe hart vorzugehen.»
Es ist nicht das erste Mal, dass die involvierten Staatsanwälte wegen ungewöhnlicher Methoden kritisiert werden. Der leitende Staatsanwalt von Schaffhausen hat eine umstrittene Vorgeschichte aus seiner Zeit als Staatsanwalt im Thurgau. Er leitete das Verfahren im sogenannten Fall Kümmertshausen, dem grössten Strafprozess, den es im Thurgau je gab. Es ging um ein Tötungsdelikt, Menschenhandel, Bandenkriminalität und einiges mehr. Doch das Bundesgericht setzte ihn und eine Kollegin 2015 von den damaligen Ermittlungen ab – wegen «zahlreicher und teilweise krasser Verfahrensfehler». Sie standen danach wegen mehrfachen Amtsmissbrauchs und Urkundenfälschung vor Gericht, wurden 2023 jedoch freigesprochen.
Die Schaffhauser Staatsanwaltschaft lässt einen umfangreichen Fragenkatalog unbeantwortet. Und beruft sich auf das Amts- und Untersuchungsgeheimnis.